Ich spreche seit Wochen mit „Randgruppen“ und frage, wie es ihnen in der Krise geht. Wäre es nicht so wichtig etwas gegen die Infektionszahlen zu unternehmen, würde ich diesen Lockdown ablehnen. Denn er ist ungerecht, undemokratisch und ich befürchte, er verursacht mehr Probleme, als er löst.

Nicht wissen, ob man es übersteht

„Der vor uns liegende Winter wird uns allen noch viel abverlangen“, hatte Angela Merkel in einer Videobotschaft bereits im November gesagt. Das stimmt aber nicht, er verlangt uns allen sehr unterschiedlich viel ab. Lockdown bedeutet für die einen, dass sie die Zeit online und auf ihrer Couch überstehen, während andere nicht wissen, ob sie die Krise überhaupt überstehen – egal, ob sie den Virus haben oder nicht.

Wenn du obdachlos bist, Depressionen hast, als Künstler*in arbeitest oder ein kleines Geschäft hast, wenn du als Sexarbeiter:in dein Geld verdienst, alleinerziehend bist, dein Mann, deine Mutter oder jemand anderes dir Gewalt antut, wenn du in der Pflege beschäftigt oder alt oder arm bist – dann ist diese Zeit für dich die blanke Hölle und du bekommst kaum Unterstützung.

Ich habe von Fällen gehört, in denen Bewohner:innen eines Altenheims über Wochen isoliert in ihren Zimmern bleiben sollten. Die können nicht fernsehen oder lesen. Die können nur mit anderen Zeit verbringen. Wenn das über Wochen wegfällt, verkümmern die Leute, die sterben innerlich.

Hauptsache die Zahlen

Es wird am Ende der Pandemie viele geben, die vor den Trümmern ihrer äußerlichen wie innerlichen Existenz stehen und während wohlhabende Menschen abgesichert sind (ihr Vermögen steigt in der Krise sogar rasant), rutschen weltweit wieder mehr Menschen in die extreme Armut ab – auch in Deutschland. Ich habe das Gefühl, Politik und Gesellschaft denken nur in Infektionszahlen – Hauptsache die gehen runter. Wie es den Menschen dahinter geht, spielt keine Rolle.

Dazu kommt, dass die aktuellen Entscheidungsprozesse höchst undemokratisch ablaufen. Im zweiten Bevölkerungsschutzgesetz vom Mai sind dem Gesundheitsminister bereits weitreichende Befugnisse eingeräumt wurden. Die parlamentarische Kontrolle ist undeutlich oder gar nicht formuliert. Im dritten Bevölkerungsschutzgesetz sind ebenfalls schwammige Formulierungen enthalten. De facto regiert die Exekutive durch – das ist mega problematisch.

Ungerechtigkeit statt Virus

Ungerechtigkeit statt Virus
Maßnahmen gegen das Virus sind absolut notwendig. Aber ich sehe nicht ein, warum nur die Schwachen darunter leiden sollen. Ich sehe nicht ein, warum alles der Angst vor dem Virus untergeordnet wird und nicht mehr hinterfragt wird – von der Politik, Medien, Linken.

Von mir aus könnt ihr einen Lockdown beschließen. Aber nicht, wenn das auf Kosten derjenigen geht, die am Ende der gesellschaftlichen Leiter stehen. Damit sorgt ihr vielleicht dafür, dass die Gesellschaft nicht schnell von einem Virus dahingerafft wird. Dafür befeuert ihr aber, dass sie langsam und stetig an ihrer eigenen Ungerechtigkeit zugrunde geht.

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3 https://www.tagesschau.de/ausland/un-armut-101.html