Die USA erleben den zweiten Bürgerkrieg in ihrer Geschichte. Ann kämpft in einer antifaschistischen Miliz auf Leben und Tod um ein Einkaufszentrum in Michigan.
Ann hält ihr Sturmgewehr um die Mauer und schießt. 2, 3, Sekunden lang. Dann zieht sie es zu sich und wartet die Reaktion ihres Gegners ab. 2, 3, Sekunden lang schießt der von etwa dreißig Meter zurück. Ann duckt sich hinter eine Mauer, die früher einmal zwei Räume voneinander getrennt hatte. Jetzt ist von ihr nur noch ein eineinhalb Meter hohes Stück übrig, die Räume sind verwüstet von Trümmern und Schutt. Ann spürt, wie auf der anderen Seite der Mauer die Gewehrkugeln auf der Marmorwand einprasseln. Es klingt wie Feuerwerk. Ein tödliches Feuerwerk.
Es ist die Schlacht um die zentrale Einkaufspassage in Lansing, der Hauptstadt des Bundesstaates Michigan in den Vereinigten Staaten von Amerika. Oder den ehemals Vereinigten Staaten, denn seit einem Monat entzweit ein blutiger Bürgerkrieg das Land. Links-Liberale gegen Rechts-Konservative, Milizen gegen reguläre Soldaten, die Bundesstaaten untereinander. Vor drei Wochen hatte sich Ann den „Independent Freedom Fighters“ (IFF) angeschlossen, einer radikalen antifaschistischen Bürgerwehr, die in Michigan versucht, rechte Gruppen zurückzudrängen. Jetzt hat sie sich mit ihren Leuten in einem Raum verschanzt, der früher ein Modegeschäft gewesen war. Ihre Gegner beschießen sie aus einem alten Handyshop.
Der Krieg holt sie wieder ein
Ann ist Ende Zwanzig, hat langes, brünettes Haar, das sie unter einem gepanzertem Helm versteckt. Nur der Pferdeschwanz hängt heraus. Sie ist kräftig gebaut und trägt Tarnfarben. Erfahrung im Kampf hat sie bei den Marines gesammelt. Um mehr Zeit mit ihrer Familie zu verbringen, hatte sie den Dienst vor einem Jahr quittiert. Nun holt sie der Krieg wieder ein. Sie hebt erneut das Sturmgewehr um die Ecke und schießt. 2, 3 Sekunden. Dann holt sie es zurück und direkt darauf wird das Feuer von der anderen Seite erwidert. 2, 3 Sekunden. „Das ist ein ganz junges Bürschchen“, ruft ihr sein Kumpel Diego von links zu. Er hält einen kleinen Taschenspiegel in der Hand, mit dem er um die Mauer blickt. Ann hatte ihn zu ihrer rechten Hand gemacht, er war immer an ihrer Seite und hielt ihr den Rücken frei. „Halt‘ du ihn weiter in Schach“, brüllt Ann ihm ins Ohr. „Ich versuche mit den anderen durch den Spielzeugladen hier rechts näher ranzukommen“. Das Kaufhaus ist komplett zerstört. Glasscherben, Lebensmittel, Klamotten, ganzes Inventar ist auf dem Marmorboden verteilt, dazwischen liegen Verwundete, einzelne schreien um Hilfe. Durch eine zerschossene Glastür zieht Kälte hinein. Wie durch ein Wunder blieben die Scheiben daneben ganz.
Es ist einer der Momente, den Ann hasst: Chaotisches Gelände, nicht sichtbare Gegner*innen, verängstige Kämpfer*innen. Sie selbst hatte sich ihre Angst abtrainiert. Übrig geblieben war nur eine Unruhe wie vor einem nahendem Sturm. Bei dem man nicht weiß, ob man ihn übersteht oder weggeweht wird.
Das Eastwood Towne Centre an der Lake Lansing Road war bis vor einem Monat noch eine der zentralen Begegnungsstätten in Lansing gewesen. Geburtstage wurden hier gefeiert, Teenies verbrachten hier ihre Nachmittage und Familien ihre Wochenenden. Vor „Mitchel’s Ice Cream“ hatte Ann mit ihrem Mann und ihrem Sohn noch in der Woche der Präsidentschaftswahl Eis gegessen. Es waren unbeschwerte Momente gewesen, so etwas wie ein Bürgerkrieg schien weit entfernt. Das ist erst fünf Wochen her. Die Stühle und Tische, an denen sie gesessen hatten, sind zerstört, die Eisbecher in tausende Einzelteile zerbrochen. Das Geschäft ist komplett zerstört, nur noch die Grundmauern und die braune Wandvertafelung sind übrig geblieben – mit Munitionseinschlägen, Sprenglöchern und Blutspuren verunstaltet.
„Doc’s Revenge“
Vor einer halben Stunde hatte der Kampf begonnen. Die Gegner*innen kamen aus einem Hinterhalt und überraschten Anns Truppe. Sie bewarfen vier ihrer Milizionäre, die an einem Eingang Wache gestanden hatten, mit Brandsätzen. Zwei von ihnen verbrannten bei lebendigem Leib. Die anderen beiden konnten sich in die Passage flüchten und mit dem Rest der Truppe die Angreifer aufhalten – aber nicht zurückschlagen. Seither beschießen sie sich von einer zur anderen Seite mit jeweils nur kleinen Raumgewinnen.
Ann kennt die Gegner. Die rechte Gruppe nennt sich selbst „Doc’s Revenge“, in Anlehnung an ihren ehemaligen Anführer. Ein ultra-rechter Zahnarzt und ehemaliges ranghohes Mitglied der Proud Boys, der schlicht „Doc“genannt wurde. Diese Gruppierung ist eine der fanatischsten und militantesten Unterstützer für Trump und kämpft gegen alles, was sie als Staat, Linke oder Migrant*innen identifiziert. Vor drei paar Wochen schafften zwei Leute von Ann „den Doc“ mit einem Sprengstoffanschlag zu töten. Zuerst hatte das Attentat die rechte Gruppe geschwächt, doch mit ihrer Neustrukturierung sind sie noch fanatischer geworden.
Nachdem US-Präsident Trump im November das knappe Wahlergebnis zugunsten von Joe Biden nicht akzeptiert und seine Anhänger zum offenen Widerstand aufgerufen hatte, wurden überall im Land ultra-rechte Milizen aktiv. Über die Hälfte aller Schusswaffen in den USA befanden sich bereits in den Händen von Trump-Anhängern und da sie sich zu einem großen Teil schon vor der Wahl organisiert hatten, traten sie direkt danach in Erscheinung. Sie griffen Politiker und Politikerinnen der Demokraten an, entführten Journalist*innen und ermordeten linke Aktivisten der Black lives matter-Bewegung oder der Antifa auf offener Straße.
Der Aufstieg der Milizen
Die Sicherheitskräfte der Bundesstaaten schritten anfangs gegen die Milizen ein. Da diese aber hochgerüstet und außerordentlich motiviert in die Auseinandersetzungen gingen, kam es oft zu stundenlangen und barbarischen Gefechten mit vielen Toten. In den demokratisch dominierten Staaten an den Küsten und im Norden konnten die meisten Milizen zurückgedrängt und zerschlagen werden. In den republikanisch geprägten Staaten dagegen begannen immer mehr Polizisten zu den Milizen überzulaufen. Oft wurden sie durch Aussagen ihrer Gouverneure dazu ermutigt, die die Gewalt verharmlosten oder den Milizen sogar das Recht auf Notwehr zuerkannten.
Als Reaktion darauf bildeten sich in diesen Staaten linksradikale Milizen, die von Freiwilligen aus den demokratischen Staaten unterstützt werden. Teilweise schicken liberale Bundesstaaten reguläre Truppen in die umkämpften Gebiete. Kalifornische Polizisten kämpfen in Texas, Freiwillige aus New York in Michigan. Die Bundesregierung ist de facto handlungsunfähig, da Trump zwar offiziell nicht mehr Präsident ist, aber verhindert, dass Joe Biden sein Amt antreten kann. Seine Anhänger hat Donald Trump dazu aufgerufen, „patriot zones“ zu erkämpfen – Gebiete, in denen die Bundesregierung unter Joe Biden keine Kontrolle hat und in denen „die wahren USA“ weiter bestehen sollen.
Ihr Traum von den befreiten USA
An diesem Punkt war Ann eingestiegen. Sie sah die Freiheit, die Demokratie und am Ende ihr Leben in den USA gefährdet. Trump hält sie für einen Diktator, seine Anhänger für menschenverachtende Fanatiker. Anders als in den meisten Bundesstaaten waren die Machtverhältnisse in Michigan nicht klar. Die Regierung ruft zwar nicht offen dazu auf, Joe Biden nicht anzuerkennen und „die wahren USA“ durchzusetzen, aber sie geht auch nicht konsequent gegen die ultra-rechten Milizen vor.
Als Ann sah, wie diese Milizen immer mehr Raum in Michigan einnahmen und politische Gegner ermordeten, griff sie zur Waffe. Ihre Familie flüchtete sich vor drei Wochen mit einem der letzten Trecks nach Kanada, bevor das Land seine Grenzen zu den USA schloss. Nun hofft sie, dass die demokratischen Bundesstaaten an der Ostküste Unterstützung schicken oder die Bundesregierung sich unter Joe Biden endlich konstituieren konnte. Solange kämpft sie Straße um Straße, Haus um Haus gegen die ultra-rechten Milizen für ihren Traum von den von Rechten befreiten USA.
„Fertig?“, ruft Ann den fünf Männern und Frauen zu, die mit ihr hinter dem Stück Mauer kauern. Sie spürt ihr Herz schlagen, die Unruhe steigt. „Auf drei schießt Diego wie ein Bekloppter und wir rennen in den Spielzeugladen. Sam, du sprengst die Wand weg. Egal wie dick, wir müssen da durch. Danach schießen wir was das Zeug hält und hoffen, dass wir so viele wie möglich von diesen Bastarden erwischen“.
Das ist ein verrückter Plan, wenn man es überhaupt Plan nennen kann. Das Einzige, worauf sie hoffen können, ist der Überraschungseffekt. Wer geht schon davon aus, dass sie eine ganze Mauer wegsprengen.
„Auf drei“, beginnt Ann zu brüllen. „Eins, zwei, drei“. Diego ballert über die Mauer was das Zeug hält. Ann und die anderen stemmen sich aus ihrer Deckung und sprinten über das Chaos auf dem Boden in den Raum, der einmal ein Spielzeugladen gewesen war. Ann verliert ihren Helm, hinter sich vernimmt sie einen Schmerzensschrei. Jemand ist getroffen worden. Doch sie muss weiter. Ihr Herz schlägt wie ein Presslufthammer, sie meint zu spüren, wie das Blut in ihren Venen durch ihre Adern schießt. Neben ihren Füßen spürt sie Einschläge, rings um ihn her pfeifen die Kugeln. Mit einem Hechtsprung rettet sie sich hinter eine alte Kassentheke, neben sich lässt sich eine junge Frau fallen. Es ist Sam. Ann blickt zurück und erkennt Luca auf dem Boden liegen. Er hält sich das Bein und versucht hinter einem großen steinernem Pflanzenkübel Deckung zu finden. „Du schaffst das, Luca!“, ruft Ann ihm zu und wendet sich an Sam: „Hau ein Loch in diese Wand, egal wie!“.
Ohrenbetäubender Knall
Sam greift in ihren Rucksack und holte zwei Granaten hervor. Sie hat in den letzten Wochen zwar immer mehr Erfahrung im Umgang mit Sprengstoff gesammelt, aber auf so einer kleinen Fläche etwas in die Luft zu sprengen, von dem man weder Material, noch Dicke kannte, war fast schon Wahnsinn. Aber sie müssen es riskieren. „Alle in Deckung!“, ruft Sam und wirft eine Granate in Richtung der Wand. Mit einem ohrenbetäubendem Knall explodiert sie. Die Schüsse von der gegenüberliegenden Seite verstummen, stattdessen dringen aufgeregte Stimmen durch die Schuttwolke. Ihre Gegner haben offenbar nicht mit Sprengstoff gerechnet. Die Wand zeigt Risse, ist aber noch nicht durch. Sam wirft die zweite Granate. Mit einem weiteren ohrenbetäubenden Knall reisst sie ein großes Loch hinein. Staub und Betonstücke fliegen umher. Ann kommt sich vor, als sei die Welt in Dunkelheit gehüllt. Für einen Moment ist es komplett ruhig.
Dann ruft sie: „Los!“. Die fünf Kämpfer*innen richten ihre Waffen durch das Loch in der Wand und schießen, als ob es kein Morgen gäbe. Von links dröhnt zusätzlich das Sturmgewehr von Diego. Schmerzensschreie erheben sich hinter dem Loch in der Wand. Stimmengewirr. „Feuer einstellen!“, ruft Ann. Dann Ruhe. 2, 3 Sekunden. Plötzlich schallt es hinter dem Loch hervor: „Jetzt!“. Ann reagiert sofort, duckt sich und ruft den anderen zu „In Deckung!“. Sie rechnet mit dem Schlimmsten. Ihr Denken setzt aus, ihre Reflexe übernehmen. Auf einmal prasseln Gewehrkugeln auf sie ein. Aber es ist nur ein Feuer. Ein Deckungsfeuer. Dann verstummt es, dafür dringt Knirschen von Schuhen auf Schutt zu ihnen herüber. Die Faschisten ziehen sich zurück.
„Hoch, hoch hoch!“ brüllt Ann, „und vor das Loch in Deckung!“. Dann gehen sie nach vorne. Ann riskiert einen Blick. Dahinter liegt weiter der Staub in der Luft. Auf dem sieht Boden sieht sie mehrere Personen liegen. Viele davon tot, aber einige ringen noch um ihr Leben. Ein besonders stämmiger junger Mann hat eine Kugel in den Hals bekommen. Sie hat seine Halsschlagader verfehlt, dafür röchelt er jetzt nach Luft. „Faschoschwein“, murmelt Diego, springt durch das Loch, richtet seine Waffe auf ihn und drückt ab. Ein ekelerregendes Matschgeräusch verrät Ann, dass Diego ihm den Schädel kaputtgeschossen hat. „Schaut nach wo sich der Rest hingeflüchtet hat und ob sie irgendwas dagelassen haben“, sagt Ann zu den anderen und springt selbst durch das Loch. „Schau mal“, ruft ihm Diego zu, „das ist der junge Kerl, der uns vorhin so eingeheizt hat“. Ann betrachtet den Toten genauer. Er ist noch keine zwanzig Jahre alt und hat die Augen geöffnet. In der Mitte seiner Stirn entstellt ein großes Loch sein ansonsten zartes Gesicht. Ann kennt den Jungen. „Fuck“, sagt sie zu sich selbst. „Das ist Colinn“.
Colinn
„Wer ist Colinn?“, fragt Diego. Ann schaut ihn leicht verwundert an. „Das ist der Sohn von David, der Typ mit der Bowlingbahn. Du kennst ihn, er hat manchmal am Wochenende dort ausgeholfen“. „Ach ja“, meint Diego, fässt sich an die Stirn und sagt lakonisch „da haben wir echt den Jungen von den Milbrands erwischt, Shit“. Ja, Shit, denkt sich Ann. Sie hat schon viele junge Leute sterben sehen, auch in ihren Reihen. Dieser Krieg kennt kein Alter, nur Links oder Rechts, Gut oder Böse. Wobei Gut und Böse im Auge des Betrachters liegen. Für Ann ist die Sache klar: Die Trump-Unterstützer, die Rassisten und Nazis sind das Böse schlechthin. Sie wollen Minderheiten ausrotten und eine Diktatur errichten. Sie müssen abgeknallt werden. Doch für Colinn war wohl sie die Böse, die Unheil und Chaos verbreiten und eine Diktatur errichten will.
Bis vor einem Monat hatten sie noch zusammen in einer Stadt gelebt, ohne sich gegenseitig abknallen zu wollen. Wie hatte es so weit kommen können?