Reiche Personen und Konzerne in Frankreich überschlagen sich gerade mit Millionen-Spenden für den Wiederaufbau von Notre-Dame. Ganz Europa scheint in Anteilnahme um den Verlust der Kirche zu versinken.
Natürlich finde ich es auch schrecklich, dass ein so besonderer Kulturschatz zerstört worden ist. Natürlich schmerzt es auch mich so eine prächtige Architektur zu verlieren. Aber wir müssen uns klarmachen, was wir hier verloren haben und wofür in Rekordzeit mehr als eine halbe Milliarde Euro gesammelt wurde: für ein lebloses Gebäude aus Stein, Holz und Glas.
Wir verlieren auf diesem Planeten jeden Tag lebendige Menschen, bei dem die Trauer und das Spendenaufkommen nicht annähernd so hoch sind. Etwa sieben Milliarden Euro bräuchte es, um zu beenden, dass wir jeden Tag 30.000 Menschen an den Hungertod verlieren¹ – das bisher gespendete für Notre-Dame sind bereits zehn Prozent davon.
Wir verlieren mehrere Millionen von Kindern, die weltweit zur Prostitution gezwungen werden. Wir verlieren in apokalyptischen Kriegen wie im Jemen oder Syrien Menschen. Ich habe in Flüchtlingslagern gesessen, in denen nicht genug Geld für Wasser oder Essen da war. Warum sind wir davon nicht schockiert, warum können reiche Personen und Konzerne nicht dafür ihre Millionen Euro aufbringen?
Wir verlieren bald unsere eigene Existenz auf diesem Planeten, weil das Klima kollabiert, der Plastikmüll in den Ozeanen das ganze Ökosystem gefährdet oder das Gift auf unseren Feldern und in unseren Städten uns langsam verseucht. Warum gibt es deshalb keinen Aufschrei, warum keine tagelangen Schlagzeilen und monumentalen Spendenaufkommen? Die Reinigung der Ozeane ist wohl schon für ein paar hundert Millionen Euro zu haben² – das wäre mit der Notre-Dame-Spende bereits drin.
Die Menschheit steht absolut schrecklichen Problemen gegenüber. Und einer abgebrannten Kirche. Und so sehr ich mir wünsche, dass dieses wunderschöne Gebäude wieder im alten Glanz aufersteht: das ist nicht halb so wichtig, halb so dringend und existenziell wie die ganzen anderen Probleme, für die viel zu wenig Geld da zu sein scheint. Oder um es ganz deutlich zu sagen: Lasst uns erst unsere Welt retten, bevor wir eine Kirche reparieren.
Foto von Olivier Mabelly auf flickr.com
Ablenka Unterhaltungowski
9. Juni 2020 — 18:01
Genau, lasst uns erst die Welt retten bevor wir uns um uns selbst kümmern…